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Mitte Oktober 2020 wurde ich Rose, einer Medizinstudentin von der Universität Liverpool, UK, im 2. Jahr, zugeteilt. Die Studenten wurden gebeten, einen Aufsatz zu schreiben, der auf einer von drei Fragen beruht.
Rose wählte die Frage ‘Beschreiben Sie welche Auswirkungen die Selbstisolation während Covid-19 auf Patienten mit seltenen Krankheiten und deren Familien hat. Wie hat Covid-19 das Leben mit einer seltenen Krankheiten verändert?
Vielen Dank, Rose, dass ich die Gelegenheit hatte meine Geschichte und Erfahrungen mit dir zu teilen. Aber auch dafür, dass ich deinen Aufsatz auf meinem Blog teilen darf. Ich drück dir für deine Prüfungen die Daumen.
Der Carney Complex
von Rose Stacey
Covid 19 hat die Welt erschüttert. Weltweit herrscht Chaos für Gesellschaften, Volkswirtschaften und die Ärzteschaft. Während es der Öffentlichkeit schwer fällt, sich auf diese vorübergehende Lebensweise einzustellen, werden Sie vielleicht überrascht sein zu erfahren, dass einige der am stärksten davon betroffenen, die gefährdeten Mitglieder der Gesellschaft, eine demütige Sicht auf den Umgang mit Unsicherheit und Ungewissheit und deren erlebten Beschränkungen bieten. Ich werde hervorheben, wie diese Pandemie die Augen der Öffentlichkeit für die Herausforderungen öffnen könnte, denen sich gefährdete Personengruppen täglich gegenübersehen, und für das Einfühlungsvermögen, das wir ihnen zeigen sollten.
Ich hatte das Vergnügen, mit „J“ zu sprechen, einer Frau mittleren Alters, bei der eine unglaublich seltene Krankheit namens Carney Complex (CC) diagnostiziert wurde. Carney Complex (CC) ist eine genetische Erkrankung, die durch gutartige Neoplasien gekennzeichnet ist, die hauptsächlich das endokrine System, die Haut und das Herz betreffen. Es wird durch Mutationen des PRKAR1A-Gens¹ entweder idiopathisch oder in einem autosomal dominanten Merkmal verursacht. Es betrifft jeden Patienten in unterschiedlichem Masse aufgrund der Anzahl der darin enthaltenen Diagnosen. Ich habe über Zoom mit Patientin “J” über ihre Erfahrungen mit CC gesprochen.
Als ich zum ersten Mal mit J sprach, war ich von ihrem Optimismus und ihrer Fröhlichkeit fasziniert, nicht nur für jemanden mit einer kompromittierenden seltenen genetischen Erkrankung, sondern auch während dieser Pandemie. Oft verzögert sich die Diagnose einer seltenen Krankheiten². J hatte ihren ersten Tumor — einen von vielen — als sie 9 Jahre alt war, bekam aber erst mit 14 die Diagnose Carney Complex. Als sie aufwuchs, wurde bei ihr auch ein fibrolamellares hepatozelluläres Karzinom diagnostiziert, eine unheilbare Art von Leberkrebs. Sie erklärte, sie könne sich glücklich schätzen so lange gelebt zu haben. Als nächstes war es Morbus Cushings, bei dem sie eine bilaterale Adrenalektomie hatte, die zu einer Form von Morbus Addison führte. Dann folgten Hypophysentumoren — Akromegalie, ein Hautmyxom, papilläre Schilddrüsentumore und zuletzt 3 Herzmyxome, welche alle entfernt wurden.
Als Medizinstudent / Mediziner ist es unsere Aufgabe, das Problem zu beheben und die Krankheit zu behandeln. Es kann leicht passieren, dass man den Patienten aus den Augen verliert. Im Gespräch mit jemandem, die so offen war wie J, wurde die Notwendigkeit einer patientenorientierten Versorgung klar. Ich fragte sie zögernd: “Was war während deiner gesamten Odyssee mit Carney Complex die schwierigste Herausforderung?” Naiv erwartete ich, dass die 3 Herzoperationen im Mittelpunkt stehen würden. Aber ihre Reaktion war viel tiefgreifender: “Ich habe meine Identität verloren”, antwortete J.
“Wenn man eine Krankheit hat, die so systematisch ist wie CC, übernimmt sie wer man ist oder sein möchte und begleitet dich jeden Zentimeter deines Lebens — wie in meinem Fall” Sie sprach mit mir über ihre bilaterale Adrenalektomie. Sie fühlte sich danach wie eine „andere Person“. Ihr Energieniveau war niedrig und sie beschrieb mir, wie sie diese aufgeweckte, intelligente und selbstbewusste junge Dame war und auf einen Schlag mit unglaublicher Erschöpfung zu kämpfen hatte. Es war traurig zu sehen, dass sie ihr früheres „gesundes“ Selbst von der neuen Normalität unterschied. Sie redete darüber, als wären sie zwei verschiedene Personen. Für sie war dies die schwierigste Zeit, weil sie das Gefühl hatte, “als ob ihr Kopf nicht auf dem richtigen Körper befestigt wäre” und die “Kommunikation zwischen ihnen verloren ging”.
Es war unglaublich, Js Denkweise zu hören und etwas, das wir alle versuchen sollten, zu erreichen. Es war inspirierend, die Geschichte eines jungen Mädchens zu hören, das aufwuchs und mit einer Krankheit wie dem Carney Complex zu kämpfen hatte, welche ihr Leben dominierte und es dabei eine positive Einstellung beibehielt. Sie ist nicht nur dankbar für das Leben, das sie lebt, sie geniesst es auch. “Die Leute neigen dazu zu glauben, dass ich aufgrund meines Zustands kein glückliches Leben führen könnte”, erklärte sie mir. J ist dankbar für ihr Leben — sie hat einen liebevollen und unterstützenden Partner, verbringt mittlerweile viel Zeit im Schrebergarten ihrer Familie und setzt sich für andere Patienten mit Carney Complex ein. Als ich sie fragte, wie sie mit der Selbstisolation umgeht, war ihre Antwort simpel: “Ich habe mich mein ganzes Leben lang an neue Diagnosen, Lebensweisen und Regeln anpassen müssen, was ich machen kann und was nicht und bereits auf so vieles Verzichten müssen — das ist normal für mich.” Diese Aussage hat mich geerdet. Obwohl es offensichtlich ist, ist mir nicht in den Sinn gekommen, dass dies für Menschen wie J, die chronisch krank sind, alltäglich ist. Alles, was die breite Öffentlichkeit gegenüber Covid empfindet, hat J ihr ganzes Leben lang gefühlt. Nicht zu vergessen sind die Frustration, nicht arbeiten zu können, neue Einschränkungen bei Aktivitäten, Schulabwesenheiten und die Angst vor der Krankheit selbst. J erklärte, dass der Unterschied zwischen gefährdeten Patienten und der Öffentlichkeit so „polarisiert“ sei. Mir war klar, dass ihre Erfahrung mit ihren Freunden und der Öffentlichkeit aufgrund des Mangels an Empathie, die sie gegenüber den gefährdeten Personengruppen zeigten, angespannt war. Sie erinnerte sich an einzelne Gespräche im Freundeskreis, in denen sie erklärte, warum sie mehr darauf achten müsse, wenn sie sich treffen wollten, nur um überraschende Kränkungen zu erleiden.
J machte dann klar, dass sie verstand, warum sie sich so fühlten, hatten sie doch selbst noch nie etwas ähnliches erlebt, was es ihnen ermöglichen würde, sich in sie hineinzuversetzen. Warum sollte sie das auch erwarten? Als Kollektiv hoffe ich, dass wir schutzbedürftigen Personengruppen mehr Empathie entgegenbringen können; die Meisten von uns können verstehen, wie es sich anfühlt, wenn das eigene Leben ständig verzögert oder durch eine Krankheit verhindert wird, die man nicht kontrollieren kann. Ich glaube, es würde eine bessere Beziehung und ein besseres Verständnis für Menschen geben, die mit chronischen Krankheiten und seltenen genetischen Krankheiten leben müssen.
Für Carney Complex werden regelmässige Vorsorgeuntersuchungen des Herzgewebes empfohlen. Insbesondere dann, wenn ein Herzmyxom zur Vorgeschichte gehört, da diese sporadisch wachsen können. J geht halbjährlich zur endoskopischen Vorsorgeuntersuchung (TEE), da sie zuvor 3 gutartige Myxome hatte. Für sie ist es daher wichtig, die aufkommenden Myxome im Auge zu behalten, auch damit sie mental abgesichert und beruhigt ist. Covid 19 hat diese Untersuchungen für sie verschoben, weil die Fälle in der Schweiz so zugenommen hatten, dass das Krankenhaus nicht mehr einschätzen konnte, wann es für sie wieder sicherer sei. Gefährdete Bürger haben nicht nur Angst vor der allgegenwärtigen Bedrohung durch Covid, sondern auch vor der Verzögerung der Behandlungen, was für J tödlich sein könnte. Diese Patienten sind derzeit fast täglich mit der Angst von den Auswirkungen des Virus auf das Leben konfrontiert. Hinzu kommt dann die zusätzliche Angst vor ihrer Erkrankung, was mit Sicherheit überwältigend und isolierend ist.
Carney-Komplex ist eine seltene genetisch bedingte Krankheit. Seit die Erkrankung 1985 in einem medizinischen Fachjournal erstmals beschrieben wurde, sind etwa 750 Diagnosen weltweit bekannt. Die Möglichkeit, mit jemandem zu sprechen, der damit lebt, hat für mich die Bedeutung einer patientenorientierten Versorgung und die umfassenden Auswirkungen einer systemischen Krankheit hervorgehoben. J hat mir eine Sichtweise auf die globale Pandemie geboten, die ich vorher noch nicht gesehen hatte, die aber für gesunde Bürger von entscheidender Bedeutung ist. Seltene Krankheiten sind bereits stigmatisiert und Covid 19 hat eine grössere Kluft aus Missverständnissen und Vorurteilen zwischen „Gesunden“ und „Kranken“ geschaffen. Wir sollten diesen Menschen mit mehr Empathie und Verständnis begegnen. Dies ist vielleicht die beste und einzige Möglichkeit, jemals verstehen zu können, was es bedeutet, mit einer seltenen Krankheit zu leben.
¹ Kamilaris CDC, Faucz FR, Voutetakis A, Stratakis CA. Carney Complex. Exp Clin Endocrinol Diabetes. 2019;127(2–03):156–64.
² https://www.eurordis.org/publication/survey-delay-diagnosis-8-rare-diseases-europe-%E2%80%98eurordiscare2%E2%80%99